« Es ist noch nicht so lange her, dass Cézanne, Bewunderer der Malerei Monets, die Gemälde Gaugins für über die Massen stylisiert und platt befand ». Indem Meyer Schapiro in seinem Fromantin gewidmeten Artikel critique d’art an diese Meinung erinnert, unterstreicht er, dass Cézanne weit mehr als der Schöpfer einer der Formen und der Farbe gewidmeten Malerei ist, sondern auch der Fortsetzer einer französichen Tradition, die « nicht erlauben konnte, dass das Motiv keiner vertrauten Realität entspräche ». In diesem Sinne, nehmen wir, trotz stilistischer und technischer Schwankungen, ein wirkliches Streben nach Ordnung und Harmonie wahr.
Die Abstraktion, für die als einziges Kriterium der Perfektion die Koherenz der konstruierten Gesamtheit gilt, hat bis zur Verarmung ein System begrenzter Elemente errichtet. Das von den aufeinanderfolgenden Avantgarden des 20ten Jahrhunderts eingerichtete auto-referentielle System hat dieses Phänomen bis zur Karikatur verstärkt. Weil sie sich nicht darauf beschränkt, Hintergründe zu produzieren oder Umrisse zu skizzieren, führt die junge deutsche, in Rumänien geborene Künstlerin Irina Rotaru die Tradition Cézannes weiter. Eine lebendige Tradition, die seit dem Ende der verschiedenen Schulen und Bewegungen in den Ländern, wo Kunst ihren eigenen Platz hat, universel geworden ist.
Was Irina Rotaru sucht, sind nicht nur neue Formen, sondern bedeutende Formen. In gewisser Weise eine neue Figuration, die uns die Welt sehen lässt, wie wir sie heute kennen – nicht durch ihre koherente, rationelle Natur, wo jedes Objekt einen festen Platz hat, sondern eine Welt aus Schwingungen und Partikeln, aus Aggregaten, wo sich, wie sie selbst über ihre Zeichnungen sagt, das Wachstum und die Bewegung in unendlichen Dimensionen entfalten. Sie will Konzepte sichtbar machen, denen zufolge die Zeichnungen anders « gelesen » werden müssen, so sehr setzt sich ihre unaufhaltbare Präsenz durch. Es ist eine Herausforderung, die das Kommentar zwingt, seine angeblichen Widersprüche (Figuration/Abstraktion) und seine daraus verlängerten Paradoxe (Neutralität/Ausdruck) zu überschreiten, um sich ausschliesslich an die strikte visuelle Tatsache einer überlegen gelösten Dialektik zu halten. Die « Auswirkung » und das « Innenleben » der von der Künstlerin entworfenen Formen, sowohl in der Behandlung des Themas, als auch in dem Fast-Einschneiden des Bleistifts in das Papier (je nach Zeichnung wissentlich ausgesucht) basieren auf einem Einsatz, dessen Absicht besonders hellsichichtig ist, eingekreist in Zeichnungen, deren Titel die Ambitionen offenbaren.
Wenn Irina Rotaru eine Danaë zeichnet, so sind ihre Linien weniger der mythologischen Figur der Danaë gewidmet als den verschieden Elementen und ihren Eigenschaften : der goldene Regen, in dem sich Zeus verwandelt, um diese Frau zu durchdringen. So werden die Linien wie bei stark fallendem Regen auch stärker und härter als beispielsweise in einer anderen Zeichnung, wo sie durch das Eindringen in eine kreisende Form eine noch nie gesehene Form erlangen. Denn dies ist das Ziel der Zeichnung : das noch nie Gesehene. Die Zeichnungen von Irina Rotaru lassen uns die unsichtbare Realität wahrnehmen, zu der uns unbekannte Formen gehören, oder solche, die wir nicht sehen können : die Zelle, die Partikel, das Herz einer Sache, eines Insekts, einer Pflanze, eines Wesens – alle wahren Formen, durch die Vorstellungswelt der Künstlerin aus dem Innern durchquert und verarbeitet, und die existieren, um das Kunstvokabular zu bereichern (wie das Gold den Mythos), um fruchtbar zu machen (wie der Regen die Erde) und zu befruchten (wie die flüssigen Elemente in den Zeichnungen Homme-fontaine und Femme-fontaine).
Die Rolle desjenigen, der zum Sehen bewegt, ist den Betrachter zu schütteln, damit dieser mehr von der Realität erfasst. Das Reelle ist geheim, was heissen will, dass man es nie darstellen kann. Die grossen orientalischen Gebildeten und Mystiker, besonders in Japan (ein Land dessen musikalische und graphische Kultur, allem voran das Ukiyo-e, Irina Rotaru faszinieren) haben verstanden, dass es bei einer Lektüre mehrere Stufen gibt. Die Zeichnungen Irina Rotarus sind eine westliche Art, dasselbe zu sagen : dass man nicht vom Anschein leben kann. Und eben in ihren Zeichnungen wird dieser Sinn besonders deutlich. Die Zeichnung reinigt die Trivialität der Scheinwelt, um in dieser Welt das Geheimnis, das Herz, die Muttervulva, die Stammzelle zu erreichen.
Der « Automatismus » der Geste, die mit natürlicher Genauigkeit im Fleck Bilder oder anthropomorphische Formen offenbart, ist sicherlich das Ergebnis einer bemerkenswerter täglichen, asketischen Arbeit, aber auch das Zeichen einer Aktivität, die eher dem Medium, dem Fragenden ähnelt als beispielsweise dem Maler oder dem zeichnenden Zeichner. Es scheint, als sei Irina Rotaru selbst das Instrument ihres Werkes, während sie das Gefühl hervorruft, beim Übergehen und Durchdringen, eine unseren Sinnen versteckte Welt zu veranschaulichen – eine Welt, die nichtsdestoweniger so real ist wie die, die wir wahrnehmen. In dieser Hinsicht kann die Zeichnung Sans chaise, sans maison, son de cloches, die subtilste ihrer minimalistischeren Arbeiten, auf traditionellem mexikanischem, für bestimmte Rituale verwendetem Papier, wie eine kaum suggerierte Karte dieser versteckten Welt gelesen werden.
Die Zeichnung ist also an erster Stelle ein Mittel, um die Bewegung zu fixieren und die wirklich evokative Form festzuhalten. Das Zeichnen kann durch seine Unmittelbarkeit am besten die Suche nach der wirklichen Funktion des Denkens übersetzen. Zeichnen ist, wie Linien auf dem Wasser zu ziehen, Ebbe und Flut des Stromes erfassend (wie es der Titel Sous l’eau beschreibt). Daraufhin löst sich die Zeichnung sofort auf, entflieht. Also muss eine neue entstehen, und dann wieder eine neue… es ist ein Wettlauf zwischen dem Entfliehen der Zeichnung auf der einen Seite und diesem Hafen des schon Bekannten, des schon Gesehenen, der althergebrachten Ideen und überreichten Form auf der anderen Seite. Einerseites versucht die Künstlerin zu jener überreichten Form zu leiten (Napoli, Grèce 2), andererseits ist alles erlaubt, da sie eine andere Form sucht, eine neue, sowohl überraschend als auch ähnelnd (Eos, Inventer la Beauté).
Irina Rotaru scheint mit den Längen der im Bleistift enthaltenen Linien zu spielen, was durch die Komposition Gérontocratie, die dem Unendlichkeitszeichen entspringt, symbolisiert werden kann. Ein neuer Bleistift wird eine, mit grosser Wahrscheinlichkeit sehr weitreichende Linie zeichen können. Wer steuert, wer kontrolliert die Form, die die Künstlerin dieser Linie gibt ? Sie kann gerade sein sowie alle Tonalitäten des Zeichnens durchqueren, seitdem diese Kunst sich von der Skizze und der Studie befreit hat. Oder sie kann die frenetische Realität zeigen, die Verrücktheit all dieser überreinanderliegenden Realitäten in der Vertikalität eines Papiers, wobei die Textur selbst des Papiers (japanisch, mexikanisch, thaïländisch…) miteinbezogen wird und mit ihr die des Mannes, der Frau, des Foetus, der Pflanze, des Eies, des Tieres… Die Zeichnung ist virtuel, essentiell, denn sie trägt die Essenz in sich und beinhaltet alles.